Nordkaff

 

Lakselv, das Dorf oder die Stadt?

Lakselv als Stadt oder Dorf zu erkennen, ist für Fremde nicht leicht. Mich erinnerte das Ganze eher an road stations in den USA, wo man aus der Prairie kommend eine oder mehrere Tankstellen sieht und in deren Nähe Einkaufsstätten. Erst auf den zweiten Blick wird einem klar, dass es sich um eine größere Siedlung handelt. Es gibt immerhin ein Best Western Hotel hier.

Wenn man Richtung Norden reist und bei Ansicht der Tankstellen links abbiegt, kommt man in eine Gegend mit Einfamilienhäusern. Dazwischen stehen ein Gemeindehaus, eine Schule und sogar ein Kino. Wären da nicht die zwergwüchsigen Bäume, könnte man sich in einer amerikanischen Siedlung wähnen. Ah, ja, da sind auch noch die typischen Häuser der Norweger. Hägar der Schreckliche wohnt allerdings schon lange nicht mehr hier.

Lakselv befindet sich in der Nähe des gleichnamigen Flusses, dessen Name auch die wichtigste Spezies Fisch verrät, die hier zu finden ist. Der Fluss führt - kein Wunder - jede Menge Wasser und breitet sich an vielen Stellen zu richtigen Seen aus. Wassermangel gibt es hier nie, nur im Winter muss man sich etwas einfallen lassen, wie man daran kommt. Denn die Temperaturen können von milden -30 ºC (Lakselv, am Fjord) auf weniger milde -50 ºC fallen. Wie milde die Temperaturen auch ausfallen mögen, dem Wasser scheint es empfehlenswert, sich eine dicke Haut zuzulegen. Eis!

Die Einkaufsmöglichkeiten im Ort Lakselv sind überschaubar. Es gibt so ziemlich alles, aber nicht immer. Vor allem gibt es hier keine Weihnachtsgänse. Dafür kosten die wunderbaren Schrimps praktisch nichts. Allerdings muss man für Schnittblumen ein Vermögen hinlegen, und für Hochprozentiges. Das aber kennt jeder Nordreisender. Obwohl sich die Stadt eher an größeren Dörfern in Deutschland messen könnte, gibt es hier das besagte Hotel, zwei Tankstellen, einige Restaurants und das Kino, von dem die Rede war. Sogar eine Weinhandlung nennt Lakselv sein eigen, was in nordischen Gefilden ziemlich luxuriös klingt. Eigenen Wein aus Lakselv bekommt man dort auch geboten - in Lakselv befindet sich die nördlichste Weinkellerei der Welt, leider muss man dazu sagen, dass der edle Tropfen aus Beeren anderer Art gewonnen wird.

Meine Tochter hat Berlin verlassen, um hier zu leben. Sie hat in Lakselv einige Fertigkeiten entwickelt, die man in der Großstadt kaum lernen kann, so z.B. beim Schlachten von Fischen. Leider bestand sie später darauf, dass ich alle gefangenen Tiere filetiere und häute. Es gibt kaum einwirksameres Mittel gegen ein Übermaß an Eifer beim Angeln. Sogar schießen hat sie gelernt, auf dass man auf die Pirsch geht. Das Wesen, das man dazu neben der Knarre braucht, heißt Paula.

Sie sollte eine solide Ausbildung als Jagdhund erhalten, was wohl etwas daneben gegangen ist. Sie jagt lieber nach Kieselsteinen, die man werfen muss, bis einem der Arm abfällt. Paula ficht das nicht an. Sie ist ein echter Irrwisch.

An Beeren mangelt es hier nicht. Die ganze Prärie schwelgt in Beeren, mit die „molte beer“ als die bekanntesten. Davon musste ich welche mit nach Hause nehmen. Wenn man im Flusstal herumläuft, geht man eigentlich auf einer mit vielen Moosen, Büschen und Stauden bewachsenen Fläche, die vollgesogen mit Wasser, langsam wippt wie der Fussboden einer Turnhalle. Büsche und Stauden darf man natürlich nicht nach unseren Maßstäben vorstellen, sondern als Bonsai. Mich wundert es überhaupt, dass Leute ein Heidengeld für Bonsai ausgeben, für das sie lässig nach Lakselv hin und wieder zurück fliegen könnten. Sie müssen ihr Bonsaibäumchen nur ausbuddeln. Dafür kann man jede Menge auf einmal mitnehmen.

Für einen Spaziergang stellt die Landschaft die bestmöglichen Bedingungen. Zum einen kann man auf diesem Boden leicht beschwingt marschieren, zum anderen herrscht eine himmlische Ruhe. Paula, meine Begleiterin, galoppierte nach jedem geworfenen Stein und brachte auch dann einen mit, wenn ich listigerweise den Stein im Wasser versenkt hatte. Sie guckte sich treuherzig herum, beäugte mich im Augenwinkel und schnappte nach einem Stein, wenn ich wegzugucken schien. Gauner gegen Gauner!

Der Herbst zauberte die wunderbarsten Farben in die Landschaft. Von der herannahenden Nacht merkte ich nicht viel, es war sogar heller als bei uns.

Des Rätsel Lösung musste ich lange suchen - wie kann es auf dem Dach der Welt kurz vor der - fast - ewigen Nacht heller sein als 20 Grad weiter im Süden? 20 Grad sind immerhin 2220 km näher am Äquator!

Ich lästerte beim ersten Anblick der Bonsaiwälder, dass dies das ideale Gelände für die Elefantenjagd sei, weil sogar deren Babies aus dem Wald rausgucken. Tatsächlich gibt es keine Elefanten hier. Ob das mit den Jagdpraktiken der Lappen - Pardon, der Samen - zusammen hängt? Vermutlich denken die Urbesiedler der Finnmark eher an die Elchjagd oder Rentierzucht. Sie müssen gegen Ende der Eiszeit hier angekommen sein und sehen nicht nur aus wie Indianer, vielmehr sind sie mit denen blutsverwandt. Der Sage nach existierte einst im Herzen Asiens, da wo die Wüste Gobi ihr Unwesen treibt, ein großes Meer, das langsam austrocknete. Die Völker, die an seinen Gestaden lebten, wanderten nach und nach in alle Himmelsrichtungen aus. Aus ihnen wurden Indianer, Ungarn, Bulgaren, Finnen oder Türken. Und auch Samen.

Stille Tage in Lakselv

Morgens bin ich vom Haus meiner Tochter in ein Tal gepilgert, in dem sich der Fluss zu einer Art Delta verbreitert. Dazu musste ich nur etwa fünf Minuten laufen. Ein paar Beeren essen, ein Schluck Wasser aus dem Fluss und vorsichtig über die Wiesen gehen, Unwissen schützt vor Einsinken nicht. Wenn die Schuhe voll sind, entwickelt sich der Rückweg zur Pein, denn es ist zwar nicht kalt hier, aber allzu warm auch nicht. Ich genieße vor allem die Möglichkeit, aus dem Fluss zu trinken.  Als Kind durfte ich das, bis eine amerikanische Firma unserer Schule einen Filmprojektor schenkte, und ein paar Filme dazu. Einer davon zeigte, wie der Kuhmist vom Oberlauf bis hinunter alles mit was? Sch… voll macht. Später habe ich gelernt, dass diese Firma Kunstdünger vertrieb und den Markt vorher mit solchen Geschenken auf das weiße Pulver vorbereitete. Richtig weißer Schnee gegen braunen Kuhdung. Wer kommt da auf die Idee, dass der Dung sauber ist, und sich der Schnee später zu einem der Sargnägel der Erde entwickeln sollte?

Am Fluss schnell ein paar Äste und etwas Moos gesammelt, die Papiertaschentücher darunter gestopft und Feuer. Vorher ein Zigarillo angesteckt. Man trifft hier garantiert keine Menschenseele, auch wenn man die Siedlung hören kann. Die Wikinger sind auch nicht mehr das, was … Und gegen das Rauchverbot in der Öffentlichkeit verstoße ich zwar, aber kein Ankläger weit und breit. Ich muss zugeben, dass ein Zigarillo am swimming pool auf einer Hawaii-Insel auch nicht zu verachten wäre, aber dort fände sich schnell ein Sheriff, sofern das besagte Becken einem nicht selbst gehört.

Die nordischen Völker - Wikinger (!) -, die vom Süden kommend die Landschaft besiedelten, wie das Eis sie langsam frei gab, haben mit den sog. Samen, den Ureinwohnern, etwa das gemacht, was die Amerikaner mit den Indianern praktiziert haben. Die Samen wurden lange unterdrückt und als Bürger (?) dritter Klasse behandelt. Mittlerweile besitzen sie, Samen aus Schweden, Finnland und Norwegen, sogar ein gemeinsames Parlament und viele autonome Rechte. In Tipis, die denen der nordamerikanischen Indianer sehr ähneln, leben sie natürlich nicht mehr ständig. Sie treiben aber ihre Rentierherden über die Landschaft und dürfen selbständig schlachten und das Fleisch verkaufen. (Vor dem Kauf bitte tranchieren üben, weil man das Tier in höchstens vier Teilen ausgehändigt bekommt.)

Zu diesen vier gehört aber nicht die Zunge, die der Schlachter, der gemeine, für sich reserviert. Nun, ja, irgend welche Privilegien müssen die Kerle doch haben, wo sie doch immer noch nicht „gleichwertig“ sind.

Die Tage mit Paula im Tal erlebte ich in unbeschreiblicher Schönheit. Als ich noch Wildnis kannte, hätte ich mich um die Beeren und Büsche hier einen Bogen gemacht. Seitdem mir die Wildnis abhanden gekommen ist, was auf Orte wie diesen Tal zurückzuführen ist, genieße ich die Natur pur.

Noch sind wir nicht am Nordkapp - aber fast …