Cities of the world

 
 

Wenn alles in Vancouver so wäre wie der berühmteste Wecker der Stadt, wäre sie wohl ein verschlafener Ort zu nennen. Die Uhr hört auf den Namen Steam Clock und ist eine. Die Stadt aber ist jung und lebendig. Die Stadt Vancouver entstand in den 1860er Jahren als Folge der Einwanderungswelle während des Fraser-Canyon-Goldrauschs und entwickelte sich nach der Eröffnung der transkontinentalen Eisenbahn im Jahr 1887 innerhalb weniger Jahrzehnte von einer kleinen Sägewerkssiedlung zu einer Metropole. Der Hafen Vancouver erlangte nach der Eröffnung des Panamakanals internationale Bedeutung. Er ist heute der größte in Kanada und exportiert mehr Güter als jeder andere Hafen in Nordamerika.

Die Stadt sieht aus einer bestimmten Sicht wie eine amerikanische Siedlung. Amerika ist ja nur 45 km weit. Wenn man sich mit ihr beschäftigt, erlebt man die wahre Natur. Die echt in nicht übertragenem Sine ist nicht weit. Whistler Mountain, in einer Stunde erreichbar, bietet solche tollen Möglichkeiten für den Wintersport, dass man die Winterolympiade 2010 nach Vancouver vergeben hat. Unweit der Stadt befindet sich die Vancouver Island, so schlappe 31.000 qkm groß und bewaldet. Der Wald ist von einer Natur, wie man sie in Kanada nicht erwartet: Da es Stellen gibt, an denen es bis zu 6.500 mm (!) im Jahr regnet, gibt es hier Regenwald. Aber auch Gletscher. Die Insel ist ein Segen für Vancouver, das sie die kalten Winde abschirmt. Vancouver genießt ein sehr mildes Klima. Während man nur eine Flugstunde entfernt auf dem Cariboo Plateau ab Winter den Schneescooter flott machen muss, gibt es in Vancouver milde Winter und leider auch viel Regen. Nicht nur feuchte Luft kommt aus exotischen Gefilden her (Hawaii), sondern auch viele Pflanzen, die hier Fuß gefasst haben, sogar Palmen oder Affenschwanzbäume.

Dort, wo die Uhr heute steht, gab es einst Regenwald und sogar Sümpfe. Heute kann man nur in den reichlich vorhandenen Kneipen versumpfen. Die kanadische Holz(sau)wirtschaft hat hier ganze Arbeit geleistet. Nachhaltige Forstwirtschaft war in Kanada ein Fremdwort gewesen, weil es pro Nase 10.000 und mehr Bäume gegeben hat. Die wurde früher betrieben, als die „First Nations“ allein gelebt hatten. Diese werden Indianer genannt, obwohl man wirklich schon lange weiß, dass sich Herr Columbus an der Adresse geirrt hatte. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drangen hier die „Weißen“ ein, dem Gold nachjagend. Jetzt dringen hier andere ein und stören die Ordnung. Diesmal sind es die „Gelben“, Chinesen. Deren Herkunftsland befindet sich im Orient, aber Orient befindet sich hier im Westen. Da die „Roten“ nicht rot sind, und die „Gelben“ mitnichten gelb, unterscheidet die feine Gesellschaft zwischen „Kaukasiern“ (also Weißen) und anderen. Wer aber große soziale Probleme erwartet, liegt falsch. Die Kanadier gehen mit Minderheiten und Einwanderern anders um als die USA. Und Vancouver ist eine echte Multi-Kulti-Stadt.

Vancouver wandelte sich mit der Zeit zu einem Dienstleistungszentrum und (insbesondere nach der Weltausstellung 1986) zu einer Touridestination. Die Stadt ist darüber hinaus hinter Los Angeles und New York der drittwichtigste Standort der nordamerikanischen Filmindustrie und wird daher auch als „Hollywood North“ bezeichnet. Die beiden anderen können aber in puncto Schönheit Vancouver nicht das Wasser reichen.

Wenn man die Zahl der Kulturen zu den Naturschätzen essbarer Art zusammen zählt, kann man sich leicht vorstellen, dass man in dieser Stadt hervorragend essen kann. Auch einen meterlangen Lachs kann man sich für den Flug nach Hause einpacken lassen.

Mit Vancouver verbinde ich ein seltenes Erlebnis: Nachtsonne und das im Norden. Als der Flieger abends abflog, befand sich die Sonne noch auf der südlichen Seite des Vogels. Anstelle anständig unterzugehen, drehte sie einen Kreis um das Heck des Fliegers und marschierte Richtung Norden. Gegen Mitternacht unterbrach eine garstige Stewardess das Naturschauspiel und zog mein Fenster zu, damit die anderen sich einen Hollywoodschinken einziehen konnten. Am nächsten Morgen war die Sonne wieder im Süden. Und die Welt war in Ordnung.


 

Seht die Welt durch meine Augen

Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen.

Robert Musil