Cities of the world

 
 

Baltimore wäre in meiner Jugend eine der Cities gewesen, die ich unbedingt besuchen wollte. Sie stand für mich für Amerika - nicht etwa New York. Dort wurde die amerikanische Nationalhymne geboren, in Fort McHenry. Die junge Nation hat in Baltimore die Angst vor der Mutter England abgeschüttelt. Deren Navy, die zuvor die Hauptstadt Washington niedergebrannt hatte, hier abgewiesen.

Anders als bei den anderen Städtebeschreibungen muss ich den Zeitpunkt meiner Reise angeben. Ich fuhr genau um 10:45 am 25. Mai 2015 von Baltimore weg. Nur zwei Stunden danach spielte sich eine der letzten wichtigsten Rassentragödien der USA genau dort ab, wo ich ein paar Tage früher gewohnt hatte, West North Avenue. Dabei hatte ich am Tage zuvor geglaubt, in einem anderen Amerika zu sein, wo die Schwarzen ganz normale Bürger waren. Die Kinder nach der Schule im Bus laut, die Bürger am Hafen richtig lustig. Wie man sich als Tourist so irren kann. Ich wähnte mich noch in Sicherheit, als der Taxifahrer sagte, ich solle nachts nicht mehr aus dem Motel gehen, das wäre keine gute Nachbarschaft. Und ich dachte, nur weil sie arm und schwarz sind? Aber auch der Taxifahrer war arm und schwarz. Laut Forbes-Liste gehört sie zu den 10 gefährlichsten Städten der USA. Laut der Zeitung The Baltimore Sun wurden zwischen Juni 2012 und April 2015 in fast 2600 Fällen Häftlingen die in Polizeigewahrsam waren, die Einlieferung in die städtische Haftanstalt verweigert, da sie zu stark verletzt waren. Den Dokumenten zufolge wiesen 123 Häftlinge sichtbare Kopfverletzungen auf. Andere hatten gebrochene Knochen, Verletzungen im Gesicht und Bluthochdruck. Genau so ein Fall brachte Baltimore zwei Stunden nach meiner Abfahrt in Explosion. Freddie Gray war eine Woche nach seiner Festnahme an deren Folgen gestorben.

Baltimore kann sich als geschichtsträchtig rühmen, s. oben. Im Hafen liegt die USS Constellation, eine der letzten Kriegsschiffe unter Segeln, erst 1955 außer Dienst gestellt. Im Jahr 1942 war sie sogar das Flagschiff der US-Atlantikflotte. Man kann mit dem Watertaxi überall im Hafen hin und her fahren und sich die Geschichte der Stadt, und auch von Amerika ansehen. Nicht nur die Spezialität von Baltimore, crabcake, ist Teil der amerikanischen Kultur, sondern auch die Geschichte von Fort McHenry. Dort wurden im 1. Weltkrieg die Verwundeten gepflegt. Die ausgestellten Kanonen zeigen die ganzen Epochen der früheren Kriegführung.

Mein Lieblingspoet Edgar Allen Poe, dessen Gedicht an seine verstorbene Frau, Annabell Lee, meine ganze Jugend begleitet hatte, hat hier gewohnt und ließ sich hier begraben. Frank Zappa, dessen Sohn meinen Vornamen trägt, leider in Erinnerung an einen Namensvetter, wurde hier geboren. Der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten, Michael Phelps, ebenso. Baltimore ist auch Geburtsstadt der amerikanischen Eisenbahn, die einst als Pferdebahn gedacht war. Es möge der Bessere gewinnen, heißt es doch so oft. In diesem Fall sollte gezeigt werden, ob Pferd oder eisernes Pferd besser waren. Das Pferd gewann. Aber es wurde ausgetrickst wie später die Indianer, die das Eiserne Ross nicht haben wollten. Baltimore ist auch Geburtsstadt einer der wichtigsten Erfindungen seit Gutenberg: Die Linotype-Setzmaschine, von der noch ein Stück meinen Schreibtisch schmückt, entstand hier. Leider ist das Stück nicht Original.

Wie blind und blöd Touristen sein können, habe ich später verstanden. Auf meinen Fotos aus Baltimore sieht man so etwa 70% Weiße, 20% Schwarze und paar Latinos. Dabei sagt die Statistik von 2014 etwa 63,3% Farbige, 28,3% Weiße, 2,6% Asiaten, 0,4% Indianer sowie 0,1% Hawaiianer. Latinos und andere sollen die restlichen 5,2% ausmachen.Baltimore hat unter den US-amerikanischen Großstädten am stärksten mit modernen Plagen wie Armut, Verwahrlosung, Drogenabhängigkeit und Suburbanisierung zu kämpfen. Baltimore hat eine hohe Verbrechensrate, mit knapp 300 Tötungsdelikten pro Jahr. Suburbanisierung heißt in Klartext, dass alle, die es sich leisten können, die Stadt verlassen. Übrig bleibt, wem die Kraft dazu fehlt. Das gibt es zwar auch in Frankfurt, wo die besseren Bürger im Taunus wohnen, oder Stuttgart, aus der viele in das weniger urbane Umfeld ziehen. In Städten wie Baltimore kann der Untergang ganz in der Nähe sein. So wie in Detroit, eine Stadt, die ich besucht, aber nie gesehen habe. Das Hotel verbot mir, nach Sonnenuntergang wegzugehen. Heute ist die Hauptstadt des amerikanischen Autos einen Ruinenstadt, pleite. Dayton, die Stadt, in der die Fliegerei erfunden wurde, fast pleite.

Trotz alledem möchte ich die Erinnerungen an eine Stadt behalten, in der ich viel Leichtigkeit erlebt habe am Hafen. Wo gesungen und etwas getanzt wurde. Wo ich die Kirschblüten am Hafen fotografiert habe. Und etwa Einmaliges erlebt: Im Hotel hatte man mein Frühstück nachlässig behandelt, weswegen ich etwas warten musste. Die Bedienung und der Chef der Bedienung entschuldigten sich mehrmals. Als ich die Rechnung unterschreiben wollte, sagten sie, sie wäre erledigt.

 

Seht die Welt durch meine Augen

Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen.

Robert Musil